Das intensive Leben by Tristan Garcia
Autor:Tristan Garcia
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Suhrkamp Verlag
veröffentlicht: 2017-03-15T16:00:00+00:00
111Adjektivische Moral, adverbiale Ethik
Die Unterscheidung zwischen Moral und Ethik beruht vielleicht auf dem grammatischen Unterschied zwischen Adjektiv und Adverb: Das Objekt einer Moral wird von einem Adjektiv und das Objekt einer Ethik von einem Adverb bestimmt. Nach einer Formulierung von Jacques Brunschwig, die von Frédérique Ildefonse zitiert wird und die sich auf den Stoizismus bezieht, aber auch für die Lehren von Platon und Aristoteles gilt, »ist die Ethik adverbial«. Die Besonderheit einer Ethik besteht darin, ein Adverb zu definieren, das angibt, wie man leben soll. Das Hauptkennzeichen einer Moral ist hingegen, könnte man behaupten, ein Adjektiv oder mehrere aufzuwerten, welche die Qualität bedeuten, die man erwerben muss. Eine Moral fordert mich auf, gerecht zu sein, würdig zu sein, respektvoll zu sein; eine Ethik verlangt, dass ich auf gerechte Weise, auf würdige Weise oder auf respektvolle Weise bin, was ich bin. Man kann auf gerechte Weise ungerecht sein, man kann das Schlechte gut tun, und man kann das Gute schlecht tun; die Ethik ist eine Frage der Art und Weise des Tuns, und darum ist sie adverbial: Sie bezieht sich nicht auf Inhalte. Die Moral legt stattdessen Werte und Ideen fest, ohne einen Hinweis darauf zu geben, wie man sein Verhalten nach diesen Werten oder Ideen richtet.
Vielleicht kommt keine Moral ohne Ethik und keine Ethik ohne Moral aus. Aber diese einfache Unterscheidung erlaubt es, zu verstehen, dass die Werte, die sich bestimmte Subjekte geben, entweder auf Inhalte oder auf Handlungsweisen bezogen werden können. In den meisten antiken Moralen werden die Definitionen des höchsten Gu-112tes, der Tugend oder des Glücks, wie Frédérique Ildefonse feststellt, in der Form eines von einem Adverb bestimmten Infinitivs ausgedrückt. So etwa: Das Ziel sei es, »der Natur entsprechend zu leben«. Die Ethik beruht hier auf diesem »entsprechend«. Aber verallgemeinern wir: Ein ethischer Lehrsatz bezieht sich systematisch auf eine Art und Weise und äußert sich durch ein Adverb oder einen adverbialen Ausdruck, sodass derselbe ethische Lehrsatz zwei gegensätzlichen moralischen Inhalten entsprechen kann. Jemand kann einem Imperativ getreu handeln, der ihn auffordert, stets die Wahrheit zu sagen oder aber zu lügen, um einen anderen zu schützen. Im einen Fall wie im anderen wird er ethisch ebenso treu sein, selbst wenn seine Moral nicht dieselbe ist. Zwei Menschen können daher dieselbe Moral haben, also identische Werte teilen, doch sich auf unterschiedliche Weise darauf beziehen und ausgehend von entgegengesetzten Ethiken handeln. Wir entwickeln beinahe immer zwei Arten von Freundschaften: moralische Freundschaften und ethische Freundschaften, adjektivische Freundschaften und adverbiale Freundschaften. Wir gehen Wahlverwandtschaften mit Personen ein, deren Ideen, Werte, Geschmack und Grundsätze wir teilen, die aber keineswegs unsere Vorgehensweisen, unsere Art, zu denken und zu handeln, sowie unseren Verstand haben. Und dann sind wir auch mit anderen Personen befreundet, deren moralische oder politische Grundsätze uns fremd sind und die uns sogar schockieren können, bei denen wir jedoch eine gleiche Vorgehens- und Denkweise, eine Art identischer Ethik erkennen. In diesem Fall bringt uns die Beziehung, die wir mit unseren Werten unterhalten, einander nahe, selbst wenn unsere jeweiligen Werte uns voneinander entfernen. Von jedem
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